Die große Zeit der Multiplexorgeln – also von Orgeln, die aus wenigen Pfeifenreihen möglichst viele Register gewinnen – war in den 1920er und 1930er Jahren. Auf lange Sicht hat sich das System
nicht bewährt, sowohl technisch als auch musikalisch waren hier die Grenzen des Machbaren sehr schnell erreicht. Auch in den folgenden Jahrzehnten gab es immer mal wieder Experimente mit
Multiplexsystemen. Ein nicht unwesentliches Argument war dabei vermutlich oft die Kostenfrage: Zu einem möglichst geringen Preis möglichst viel Orgel zu bekommen, war und ist bis heute ein
gewichtiges Anliegen vieler Auftraggeber. Auch bei der Frage nach E-Orgel, Elektronium, Digitalorgel, Sakralorgel (oder wie auch immer man das nennen mag) als Pfeifenorgelersatz ist das
Preis-Argument immer wieder einer der entscheidenden, wenn nicht der entscheidende Punkt.
Aus meiner Sicht geht, wenn man „richtig“ Musik machen will – und das nicht nur im konzertanten, sondern vor allem auch im liturgischen Kontext –, nichts an der „richtigen“ Pfeifenorgel vorbei.
Dennoch kann ich natürlich – nicht zuletzt auch in meiner vermittelnden Funktion als Orgelsachverständiger – die Fragen vieler Gemeinden nach kostengünstigen Wegen zu einer Orgel verstehen.
Mit diesen Gedanken im Hinterkopf habe ich am vergangenen Samstag (unter anderem) zwei Instrumente im Kreis Cloppenburg besucht.
Zunächst war ich im sog. „Dom des Saterlandes“ St. Georg in Strücklingen. Die dortige Orgel ist 1932 von der Orgelbauanstalt Anton Feith in Paderborn erbaut und 1980 von der
Nachfolgefirma Siegfried Sauer in Höxter-Ottbergen umgebaut und erweitert worden. Ein nicht unwesentlicher Anteil des Pfeifenwerks von 1932 ist erhalten geblieben, während vor allem die
Register in den höheren Fußtonlagen von 1980 stammen. So präsentiert sich das Instrument primär im Grundstimmenbereich mit durchaus satten und weichen Klängen, während die höher liegenden
Register an Schärfe zunehmen. Die beiden gemischten Stimmen in den Manualwerken (Mixtur und Zymbel) fügen sich mit ihrem herben Glitzern auch nicht so wirklich in den Gesamtklang ein. Alles in
allem ein Werk mit durchaus lohnenden Einzelfarben, aber in der Inhomogenität der Klangschichten auch ein (spätes) Kind der neobarocken Umformung spätromantischer Orgelklänge.
Mich reizte bei dem Besuch aber besonders eine andere Frage: Und zwar wurde vor 11 Jahren an den midifizierten Spieltisch ein Expander der Marke Hoffrichter (SE-20) angeschlossen, mit dem die
Orgel nun um eine digitale Komponente erweitert ist. Mein Interesse galt hier der Vereinbarkeit von Pfeifenorgel- und digitalen Orgelklängen.
Wie mir der Organist berichtete, war das ausschlaggebende Argument für die digitale Erweiterung seinerzeit die Tatsache, dass das Pfeifenwerk auf der Südempore steht, während Organist und Chor
auf der Nordempore musizieren. Durch die Entfernung gab es immer wieder akustische Verzögerungen, die das gemeinsame Musizieren zwischen Orgel und Chor erheblich erschwerten. Daher gab es die
Idee, quasi eine zweite digitale Orgel auf der Chorempore zu installieren, über deren Lautsprecher Organist und Chor eine direkte akustische Verbindung haben. Dieses Ziel wurde erreicht.
Neben der akustischen Hilfe für den Chor bedeutet die digitale Erweiterung letztlich auch eine deutliche Erweiterung der Registerzahl – immerhin von 24 auf 47 Register. Die Registernamen, die der
Expander bietet (für beide Manualwerke sogar wahlweise jeweils zwei Alternativ-Dispositionen), ließen wenig Spannendes erwarten. Und in der Tat gibt es hier wenig, was die Pfeifenorgel nicht auch
zu bieten hätte. Wie so oft hört man vor allem bei den Zungenstimmen und den höherliegenden Registern ganz deutlich die künstliche Tonerzeugung, so dass man nicht von einem klanglichen Gewinn
sprechen kann. Deutlich mehr überzeugen können die Register im Grundstimmenbereich: Der digitale Subbass 16' gibt dem Gesamtorgelklang eine zusätzliche sonore Tiefe oder die digitalen
Schwebestimmen (Unda maris bzw. Voix céleste) bereichern den Pfeifenorgelklang um eine dort nicht vorhandene Klangfarbe. Die der Strücklinger Pfeifenorgel fehlende Verbindung zwischen
Grundstimmenvorrat und hellem Mixturklang kann die digitale Erweiterung nicht in überzeugender Weise schaffen – eine vertane Chance.
Über das Finetuning können die digitalen Register der Stimmtonhöhe der Pfeifenregister genau angepasst werden, was bei den natürlichen Schwankungen abhängig vom Raumklima unerlässlich ist.
Auch wenn mich die Erweiterung durch den Hoffrichter-Expander klanglich nicht überzeugen konnte, war für mich die Erfahrung wertvoll, dass Pfeifen- und digitale Klänge durchaus gut miteinander
harmonieren und aufeinander abgestimmt werden können.
Bei anderen Orgeln, wo es nicht in erster Linie um eine Überbrückung akustisch problematischer Distanzen geht, sondern um eine Erweiterung des Klangfarben-Vorrates kann ich mir ein solches
Zusammenspiel der Komponenten durchaus gut vorstellen. Beispiele für solche „Hybridorgeln“ gibt es ja durchaus, z. B. kürzlich in der neuapostolischen Kirche Wilhelmshaven installiert. Sobald ich
die Gelegenheit habe, ein solches Instrument live kennenzulernen, werde ich hier darüber berichten.
Und nun zu der zweiten Orgel, die ich am Samstag kennenlernen durfte und die zum eingangs erwähnten Thema Multiplexorgel zurückführt:
Seit 10
Jahren steht in der ev.-luth. Friedenskirche in Garrel eine gebraucht angeschaffte sog. „Systemorgel“ der niederländischen Firma S. de Wit & Zn. Das Multiplexsystem ist bei diesem
Instrument ziemlich extrem angewendet. Beim äußeren Anblick des kleinen Instruments muss man schon erst einmal stutzen, wenn man die 22 Registerwippen zählt. Doch tatsächlich: die meisten Klänge
werden hier real über Orgelpfeifen erzeugt. Nur im Bassbereich hat man sich der Elektronik bedient: Der Subbass 16' sowie die große Oktave sämtlicher 8'-Register werden elektronisch erzeugt – das
allerdings in so überzeugender Klangqualität, dass ich das auch erst nach einiger Zeit des Spiels gemerkt habe.
Alle weiteren Register sind im Wesentlichen aus vier Pfeifenreihen gebildet:
Das I. Manual hat hauptsächlich prinzipalischen Charakter. Aus der Prinzipalreihe werden Register in 8'-, 4'- und 2'-Lage sowie die Quinte und die Terz gewonnen.
Das II. Manual ist vom Flötenklang bestimmt. Aus der Pfeifenreihe der Rohrflöte werden auch Nasard und Quint 1 1/3' gebildet.
Darüber hinaus gibt es eine Gedackt-Reihe und eine Gamba, die aber beide nur im 8'-Bereich (sowie Gedackt auch als 4' im Pedal) genutzt werden. Und im II. Manual gibt es sogar eine sehr passable
Schwebung mit Célèste 8'. Die Wirkung des Tremulanten war kaum wahrzunehmen.
Die beiden Manuale sind koppelbar, eine Koppel ins Pedal erübrigt sich angesichts der durchaus üppigen Pedaldisposition.
Ging ich zuerst mit einer gewissen Skepsis an dieses Instrument, muss ich doch gestehen, dass ich durchaus überrascht war von der musikalischen Überzeugungskraft des Instruments. Gegenüber den
früheren, in der Regel pneumatisch gesteuerten Multiplexorgeln bietet die Elektronik heutzutage eine technisch deutlich zuverlässigere Einzeltonansteuerung der Pfeifen, so dass die Komplexität
der Pfeifen-Mehrfachnutzung der Funktionalität nicht mehr im Wege stehen muss. Natürlich gibt es bei dieser exzessiven Ausnutzung von insgesamt nur 220 Pfeifen für 22 Register musikalische
Grenzen – Klanglöcher vor allem beim polyphonen Spiel sind vorprogrammiert.
Und dennoch glaube ich, dass sich dieses Instrument in der musikalischen Alltagspraxis kleiner Gemeinden durchaus lohnen kann. Entsprechend positiv fiel auch das Fazit des Pfarrers aus, der mir
berichtete, dass die Orgel auch gerade jetzt in der gesanglosen Corona-Zeit wertvolle und überzeugende Dienste im Solo-Orgelvortrag geleistet habe.
Und in der Tat: Wenn ich als Organist einer kleinen Kapelle vor der Frage stünde, ob ich lieber auf einem pedallosen Positiv mit steiler 8-4-2-Disposition oder auf einer zweimanualigen
Multiplexorgel mit Schwebung und elektronischem 16' im Pedal spielen wollen würde, würde ich die zweite Variante auf jeden Fall auch in Erwägung ziehen.
Der Tag hat mich um zwei ganz unterschiedliche Erfahrungen klanglicher Erweiterungen von Pfeifenorgeln reicher gemacht. Dass die Ergänzung der Pfeifenorgel durch digitale Orgelklänge durchaus
funktioniert, hat mir die Orgel in Strücklingen gezeigt. Für eine „richtige“ Hybridorgel, bei der die Digitalklänge eine Erweiterung des Klangfarbenvorrates darstellen, ist allerdings noch einmal
ein größeres Augenmerk auf die Auswahl und klangliche Qualität der Digitalregister zu werfen. Und nicht zuletzt muss eine Erweiterung um Klangfarben ja gar nicht immer nur die Imitation fehlender
Pfeifenregister bedeuten, sondern kann auch ganz eigene elektronische Klänge beinhalten!
Positiv hat mich die Multiplexorgel der ev.-luth. Friedenskirche in Garrel gestimmt: Dieses System bietet den Vorteil, dass alle (oder fast alle) Klänge „echt“, also mit echten Pfeifen erzeugt
werden, was der Klangqualität sehr zuträglich ist. Dass das System Grenzen hat, liegt auf der Hand. Daher kann ich eine solche Multiplexnutzung auch nicht (!!) für größere Instrumente mit
künstlerisch höheren Ansprüchen empfehlen. Aber für den Gebrauch in einer kleinen Gemeinde, deren Hauptaufgabe in der Begleitung des Gemeindegesangs und kleinerer solistischer Vorträge liegt,
sehe ich diese Art der Orgel durchaus als eine attraktive Alternative.
Orgel darf nicht „billig“ sein – ein möglichst niedriger Anschaffungspreis darf, wenn wir es ernst meinen, niemals ausschlaggebendes Argument für (oder vielmehr gegen) eine Orgel sein. Aber es
gibt Möglichkeiten der klanglichen Erweiterung traditioneller Konzepte, die es, wo es geboten ist, kreativ zu nutzen gilt, um – jeweils vor dem Hintergrund der Gegebenheiten und Anforderungen vor
Ort – das optimale Verhältnis zwischen Kosten und Nutzen zu finden. Zwei wertvolle Anregungen dafür habe ich nun kennengelernt.
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